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Gut leben und sterben im 21. Jahrhundert – die goldenen Mitten der Spätmoderne

Folgendes „klingt“ eher heiter, stellenweise ironisch und hier und da ernst.

Im Gegensatz zur Seegurke und Arten wie der Turritopsis dohrnii, der sogenannten „unsterblichen Qualle“, werden wir wahrscheinlich alle sterben. Es werden zwar derzeit Milliarden investiert, um das zu ändern, aber bis auf Weiteres müssen wir damit leben.

Doch wie sollen wir mit dem Tod umgehen? Eine Frage, die die Menschheit seit jeher beschäftigt. Ein buddhistischer Mönch sagte einmal: „Du sollst nicht vor ihm davonlaufen, aber du sollst ihm auch nicht entgegeneilen!“ Doch was bedeutet das? Diese Antwort ist individuell: Für manche könnte es bedeuten, das Leben als hedonistisches Feuerwerk zu gestalten, wie Lemmy von Motörhead, für andere eher so wie der australische Langlebigkeitsexperte David Sinclair.

Der hält Altern für eine Krankheit, die wir heilen können. Er selbst nimmt morgens einen Cocktail aus Olivenöl, NMN, Kurkuma, Traubenkernextrakt und dem Diabetikermedikament Metformin zu sich, isst nur einmal am Tag, vermeidet den direkten Kontakt zur Sonne, gönnt sich aber in Sonderfällen auch mal ein Zero-Getränk. Buddha selbst lebte zuerst als verwöhnter Adeliger und dann jahrelang als Asket, bis er seine Erleuchtung hatte und mit dem „mittleren Weg“ eine Lebensphilosophie begründete, die das Vermeiden von Extremen propagiert.

Etwa 100 Jahre später, also vor rund 2400 Jahren, entwickelte Aristoteles die sogenannte Mesotes-Lehre. Dabei steht Mesotes wörtlich für „Mitte“ oder „Mittelweg“. Diese Lehre war ein zentraler Bestandteil der antiken Tugendethik und betonte, dass das gute Leben durch das Finden des richtigen Maßes zwischen Extremen erreicht wird.

Nach Aristoteles lässt sich jeder Charakterzug als Mittelwert zwischen zwei Extremen darstellen. Diese Extreme stehen jeweils für eine unangemessene Übertreibung oder ein Vernachlässigen der Tugend. So liegt zum Beispiel Mut zwischen Feigheit, also zu wenig Mut, und Tollkühnheit, also zu viel Mut. Die „goldene Mitte“ ist in diesem Fall ein angemessener und ausgewogener Mut, der in einer bestimmten Situation passt. Sich etwa allein und unbewaffnet einer Straßengang zu stellen, wäre nicht mutig, sondern leichtsinnig.

2000 Jahre später wurde die Mesotes-Lehre vom deutschen Philosophieprofessor Nicolai Hartmann aufgegriffen und weiterentwickelt. Daraus ging das sogenannte Wertequadrat hervor, das Friedemann Schulz von Thun noch weiter verfeinerte und das als „Werte- und Entwicklungsquadrat“ bis zum heutigen Tag ein anerkanntes Instrument in der Persönlichkeitsentwicklung ist.

Für ein gutes und gesundes Leben gilt es neben solchen „Charaktertugenden“, wie Aufrichtigkeit, Fleiß, Sparsamkeit, Mitgefühl, Bescheidenheit, Geduld u. a., aber auch, die richtige Balance in Feldern wie Sport oder Ernährung zu finden. Auch hier dürfen wir feststellen, dass sogar vermeintlich gesunde Verhaltensweisen gefährlich werden können, wenn wir sie übertreiben.

Ein tragisches Beispiel hierfür ist der Fall eines 30-jährigen Briten, der bei sengender Hitze beim Frankfurter Triathlon 2015 seinen Tod besiegelte, indem er zu viel Wasser trank und zu wenig Salze zu sich nahm. Er war aber an jenem Tag nicht allein beim Übertreiben. Von den 3200 Teilnehmenden mussten 350 vom Roten Kreuz behandelt werden und etliche ins Krankenhaus – und das ist kein Einzelfall. Ebenfalls übertrieben hatte es eine amerikanische Alkoholikerin, die scheinbar ihre Sucht überwand, indem sie alkoholische Getränke durch Wasser ersetzte. Sie trank jedoch so viel davon, dass es ihrer eigenen Aussage nach eine Art Rausch bei ihr auslöste. Sie wurde wieder süchtig, diesmal nach Wasser, und starb an den Folgen.

Naheliegenderweise kann es jedoch bei einem gelungenen Leben nicht nur darum gehen, so alt wie möglich zu werden, denn das bedeutet nicht zwangsläufig, ein schönes Leben zu haben oder gesund zu sein. In der heutigen Zeit werden zwar viele Menschen immer älter – die Mortalität ist also gesunken – aber gleichzeitig ist die sogenannte Morbidität gestiegen. Das bedeutet, dass viele Menschen im Alter über Jahre hinweg an chronischen Krankheiten leiden. Viele davon sind Zivilisationskrankheiten, die vermeidbar sind.

Das erfordert allerdings, dass wir ab und an bereit sind, unsere Komfortzone zu verlassen. Nicht zufällig reagiert unser Organismus sowohl körperlich als auch psychisch positiv auf das, was man als Hormesis bezeichnet. Hormesis ist ein biologisches Phänomen, bei dem eine kleine Menge von etwas, das in großen Mengen schädlich sein kann, dem Körper nützt. Es bedeutet, dass der Körper durch leichte Belastungen oder Stressfaktoren stärker oder widerstandsfähiger wird.

Ein einfaches Beispiel ist Bewegung: Zu viel kann schaden, aber regelmäßige, moderate Bewegung stärkt den Körper. Oder Sonnenlicht: In großen Mengen kann es gefährlich sein, aber kleine Mengen sind wichtig für die Vitamin-D-Produktion. Auch Eisbäder, Saunagänge und Fasten sind – in angemessener Menge – gut für unser Wohlbefinden.

Hormesis beschreibt also den positiven Effekt kleiner Dosen von Stressoren, die den Körper dazu bringen, sich zu verbessern und stärker zu werden. Aber wie immer macht die Dosis das Gift und auch hier gibt es eine goldene Mitte, die es zu suchen und besser noch zu finden gilt.

Im Grunde wissen wir alle vieles von dem, was gut für uns wäre, und das Internet strotzt nur so vor Lifehacks. Aber wie wir alle wissen, ist es herausfordernd, dieses Wissen in die Tat umzusetzen und dabei den Versuchungen unserer Konsumgesellschaft zu widerstehen.

Auch machen wir uns oft nicht bewusst, wo für uns die goldenen Mitten all dieser Dimensionen liegen. Ich selbst habe mich schon unzählige Male dabei erwischt, mir die Frage zu stellen, ob ich joggen gehen soll oder nicht, nur um dann zu merken, dass ein Spaziergang das Mittel der Wahl gewesen wäre, weil ich ohnehin noch Muskelkater hatte. Und auch ohne Muskelkater ist ein Spaziergang besser, als sich nicht zu bewegen.

Ob es die Mitte zwischen sportlicher Belastung und Regeneration, die Balance zwischen unserer Karriere und unserem Privatleben oder die Mitte zwischen Altruismus und Egoismus ist – es gibt eine Vielzahl von goldenen Mitten, die für uns wichtig sind, um ein gelungenes Leben zu leben. Es ist nicht einfach, dabei die Übersicht zu behalten. Meine aktuelle Sammlung umfasst derzeit 85 solcher goldenen Mitten.

Doch selbst wenn man alles perfekt umsetzen könnte oder überhaupt genau wissen könnte, was perfekt ist, ist ein echtes Leben niemals perfekt. Wir alle erleben Unfälle, Krankheiten, sind im Prüfungsstress, gründen eventuell Familien, machen Fehler und verlaufen uns ab und an. Doch gerade diese Krisen und Irrtümer sind oftmals unvermeidliche Wendepunkte in unserer persönlichen Geschichte und Teil des Abenteuers Leben.

Wie wir dieses Abenteuer meistern können, ist die Frage, der ich in den nächsten Wochen und Monaten nachgehen möchte.

Bevor ich mich dabei konkret den einzelnen Ressourcen für ein gutes Leben auseinandersetze, werde ich jedoch in den nächsten Beiträgen einige grundlegende Prinzipien und Voraussetzungen darlegen, die es erleichtern, diese Bereiche besser zu verstehen und sinnvoll in den Alltag zu integrieren.

Dazu möchte ich dich herzlich einladen.

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