Sich um Kopf und Kragen reden oder: Wie entsteht die Rhetorik?

Wie entsteht die Rhetorik?

Die Fähigkeit, eine Gruppe von Menschen durch Reden von etwas zu überzeugen und zu einem bestimmten Verhalten zu bewegen, war historisch zum Beispiel für Häuptlinge und Herrschende von Bedeutung. Unverzichtbar für die Motivation war auch die Ansprache, die ein Feldherr vor der Schlacht „aus dem Stegreif“ hielt.

Mit dem Aufkommen der antiken Demokratien gewann die Überzeugungskraft des Redners insofern an Bedeutung, als dass die Bevölkerung nicht mehr einfach gezwungen werden konnte, im Gegensatz zu einer Diktatur, und Meinungsvielfalt überhaupt möglich war.

In Sizilien war im 5. Jahrhundert vor Christus die Tyrannis abgeschafft worden, etwas später in Athen, und in Volksversammlungen wurden die unterschiedlichen Interessen, Perspektiven und Ziele als öffentlicher, politischer Diskurs ausgehandelt.

Sich um Kopf und Kragen reden…

Im radikaldemokratischen Athen konnte jeder Bürger einen privaten Streit vor ein Volksgericht bringen. Dabei wechselten sich die Redebeiträge von Kläger und Beklagtem ab und es wurde von beiden (!) ein Strafmaß beantragt. Denn sollte der Kläger seinen Fall nicht gewinnen, musste er selbst eine Bestrafung hinnehmen. Ein Missbrauch der Gerichtsbarkeit sollte auf diese Weise verhindert werden. Zeugen wurden im Verfahren nicht gehört. Per geheimer Abstimmung fällten die Richter das Urteil darüber, ob die Klage berechtigt gewesen war. Es drohten Strafzahlungen, der Verlust des Besitzes, Verbannung und Tod. Einen Rechtsanwalt durfte man nicht für sich sprechen lassen, jeder Beteiligte musste seine Perspektive selbst darstellen. Man konnte sich also buchstäblich um Kopf und Kragen reden.

Es kam also alles auf die Überzeugungskraft der Klage- oder Verteidigungsrede an, auf die Schlüssigkeit der Argumentation und darauf, sich selbst möglichst gut und den Gegner möglichst schlecht dastehen zu lassen. Um sich darauf vorzubereiten, analysierten die Athener erfolgreiche Gerichtsreden, berieten gemeinsam über Argumente, Emotionen und Formulierungen und probten den Vortrag ihrer Rede. So entstand im antiken Athen die Rhetorik aus der Praxis. Die Berufe Redenschreiber und Rhetorik-Lehrer kamen auf und es entwickelte sich ein theoretisches Fundament mit systematisierenden Einteilungen der Redekunst. Der Politiker und Philosoph Cicero macht die griechische Rhetorik später den Römern in seinem Werk „De oratore“ (Über den Redner) zugänglich.

Sieben Wege zur Weisheit?

Im Mittelalter zählten Grammatik, Rhetorik und Dialektik zu den Sieben Freien Künsten. Als Trivium bilden sie die drei sprachlichen „Wege zur Weisheit“. Dazu kam das Quadrivium mit Arithmetik und Geometrie und ihren jeweiligen “Anwendungsdisziplinen” Musik und Astronomie. In den Universitäten seit dem 13. Jahrhundert war die philosophische Fakultät mit ihren Sieben Freien Künsten die Grundlage, um Recht, Medizin oder Theologie studieren zu können.

Während sie damals also zum Grundbesteck eines jeden gebildeten Menschen gehörte, verschwindet die Rhetorik im Laufe des 19. Jahrhunderts als dem Lehrkanon. In Deutschland kann man Rhetorik heute nur noch in Tübingen studieren.

Griechischen Messene
Hier versuchten Reder die versammelten Städter zu überzeugen (in diesem Fall im griechischen Messene)
Gute Worte für die schlechte Sache

Ein besonders prominenter Rhetoriker war Gorgias von Leontinoi aus Syrakus. Er gehörte zu den Sophisten, der führenden antiken Philosophieströmung vor Sokrates, Platon und Aristoteles. Ihre rhetorischen Fähigkeiten waren methodisch weit entwickelt und sie lehrten sie gegen Bezahlung. In zwei vollständig überlieferten Reden zeigt er eindrucksvoll, wie der Gebrauch von Stilmitteln und logischen Beweisen auch bei ungünstiger Ausgangslage noch zum Erfolg vor Gericht führen kann. Um Wahrheit oder Moral ging es ihm dabei allerdings nicht.

Als Zeitgenosse macht Platon seiner Empörung über diese opportunistische Haltung mit seinem Werk Gorgias Luft. In diesem fiktiven Dialog zwischen seinem Lehrer Sokrates und Gorgias, sowie zwei seiner Schüler, werden ethische Fragen der Rhetorik diskutiert. Die Rhetorik sei keine richtige Kunst, da sie nicht auf das Erkennen der Wahrheit abziele. Stattdessen nutze sie die Ergebnisse empirischer Beobachtung, um sich bei den Mächtigen einzuschmeicheln und der Masse nach dem Mund zu reden. Für Platon ist der moralisch gefestigte Redner deshalb überzeugend, weil er sich nicht verstellt und widmet sich aus dieser Haltung heraus den Staatsgeschäften.

Der römische Politiker und Philosoph Cicero übernimmt diesen Ansatz später und das Rednerideal wirkt bis weit in die Neuzeit hinein. Das gezielte Anwenden technischer Kniffe wird immer wieder Gegenstand von Kritik. Seit der Aufklärung wirft man der Rhetorik wieder verstärkt vor, von rationaler Erkenntnis abzulenken und strategisch-manipulative Verstellungskunst zu sein, heftige Rhetorik-Gegner sind beispielsweise Kant und Goethe.

Um die Bedeutung von Form und Inhalt geht es auch im „Dr.-Fox-Experiment“ (1973) aus der Sozialpsychologie. Es widmet sich der Frage, ob und wie die Person des Referenten die Rezeption von (Fach-)Vorträgen beeinflusst.

Die Hypothese war, dass ein gut präsentierter Vortrag selbst erfahrenen Zuhörern das Gefühl vermitteln kann, etwas gelernt zu haben, auch wenn das Vorgetragene falsch oder widersprüchlich ist. Man engagierte den Schauspieler Michael Fox und ließ ihn einen Vortrag mit dem Titel Mathematical Game Theory as Applied to Physician Education halten.

Dieser basierte zwar auf einem Fachaufsatz, wurde aber gezielt mit widersprüchlichen oder zweideutigen Aussagen, unlogischen Folgerungen und erfundenen Fachbegriffen verfälscht. Mehrheitlich sei es den teilnehmenden Personen nicht gelungen den Vortag als Unsinn zu entlarven. Demnach sei der Vortragsstil wichtiger als der Vortragsinhalt für die Überzeugung des Publikums.

Literatur
  • Göttert, Karl-Heinz (1991): Einführung in die Rhetorik: Grundbegriffe – Geschichte – Rezeption, München: Fink.
  • Groddeck, Wolfram (2008): Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens, 2. durchgeseh. Aufl., Frankfurt a. M./Basel: Stroemfeld.
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WEITERE SPANNENDE IMPULSE