Was ist Willenskraft? und: Wieso du dich nicht disziplinieren solltest

Bei manchen Dingen fällt es uns leicht, sie regelmäßig zu tun, wir haben sie gut geübt, sie machen uns Spaß und sind häufig positiv verstärkt worden.

Andere Tätigkeiten kosten uns jedes Mal Überwindung oder wir vermeiden sie komplett. Dann bemerken beim Verfolgen bestimmter Vorhaben immer wieder, dass einem bei der Umsetzung die verschiedensten Dinge in die Quere kommen – wichtige Termine, ein Bier, Netflix…

Wir geben diesen Versuchungen nach… mal mehr, mal weniger – und ärgern uns, dass wir nicht konsequenter sind. Wir erwarten das von uns selbst und enttäuschen uns immer wieder. Und wir fragen uns, wie kann das sein?

Wir unterdrücken ständig Impulse & Bedürfnisse

Wer es schafft, sich zu fokussieren und seine Aufmerksamkeit bewusst zu steuern, kann seine Impulse besser kontrollieren.

Baumeister/Tierney (2011) skizzieren in „Die Macht der Disziplin“ eine Untersuchung, die zeigt, dass wir ständig Bedürfnisse und Wünsche haben.

Dazu wurden Probanden mit Beepern ausgestattet, die sieben Mal am Tag zu zufälligen Zeitpunkten klingelten. Die Teilnehmer*innen notierten dann, ob sie zu diesem Zeitpunkt oder kurz zuvor ein Bedürfnis verspürt hatten.

In der Hälfte der Fälle gaben die Teilnehmer*innen an, dass sie in diesem Moment gerade ein Bedürfnis hatten. Ein weiteres Viertel gab an, kurz zuvor ein Bedürfnis gehabt zu haben. In den meisten Fällen waren die Teilnehmer dem Bedürfnis nicht gefolgt.

Die Untersuchung ergab, dass wir drei bis vier Stunden am Tag damit verbringen, Versuchungen zu widerstehen.

Willenskraft ist das, was wir brauchen, um die sofortige Bedürfnisbefriedigung zu vermeiden und dafür später eine größere Belohnung zu bekommen.

Wie nehme ich Einfluss auf die Willenskraft?

Fokussierung

  • Bewusste Aufmerksamkeitssteuerung heißt, der Ablenkung durch Gedanken, Gefühle und äußere Reize entgehen
  • Die Kunst der Fokussierung besteht im Weglassen: Blenden Ablenkungen aus oder schaffen Sie sie ab. Eine unerledigte Aufgabe beschäftigt immer wieder, bis sie abgeschlossen ist (Zeigarnik-Effekt)

Selbstüberwindung

  • Den ersten Impuls zur Anstrengungsvermeidung und sofortigen Bedürfnisbefriedigung zu kontrollieren
  • Der erste Impuls ist oft entscheidend, danach braucht man viel weniger Energie, um die Tätigkeit noch beizubehalten
  • Je öfter wir uns überwinden, desto weniger anstrengend wird es, bis die Handlung automatisiert stattfindet.

Planung

  • Die einzelnen Schritte auf dem Weg zum Ziel definieren, Etwaige Hindernisse einkalkulieren, Entscheidung für Prioritäten

Durchhaltevermögen

  • Trotz Anstrengung, Widerstände oder Fehlschlägen nicht aufgeben
  • Durchhalten ist vor allem immer wieder anfangen!

Emotionsregulation

  • Mit Frustration, Kritik oder negativen Gefühlen konstruktiv umgehen
  • Sich auch in schwierigen Situationen in eine positive Stimmung bringen

Selbstwirksamkeit

  • Auf die eigenen Fähigkeiten in Abstimmung mit dem Ziel vertrauen
  • So erscheinen Probleme eher als handhabbare Herausforderungen

Im Anschluss:

  • Beobachtung der Handlungsergebnisse und Selbstkorrektur.

Was schwächt die Willenskraft

Das Gehirn verliert mit jedem Einsatz der Willenskraft an Aktivität, es wird müde genau wie die Beine eines Sportlers. Nach jeder willentlichen Anstrengung gelingt es beim nächsten Mal schlechter – bis man sich die Schokolade kurz vor Feierabend doch noch in den Mund steckt, die man den ganzen Tag über heroisch ignoriert hatte.

1. Entscheidungen treffen

Von morgens bis abends entscheiden wir viele tausend mal uns zu fokussieren, während von überall Informationen auf uns einprasseln (z. B. jeden Tag über 3000 Werbebotschaften, die uns mehr oder weniger geschickt verführen wollen)

Auch Tätigkeiten wie surfen und einkaufen, die Spaß machen und die wir vermeintlich zur Entspannung einsetzen sind also Willenskrafträuber

  • Welche alltäglichen Entscheidungen kannst du standardisieren?

2. Versuchungen widerstehen

Sehen, hören oder riechen wir etwas, das für uns eine Belohnung darstellt, löst das im Gehirn einen Dopaminschub aus, der die Aufmerksamkeit lenkt und uns dadurch willensschwach macht.

Belohnungsversprechen wecken unser Interesse und motivieren uns – aber führen sie zu einer echten Belohnung?

  • Was ist für dich besonders verlockend? Wie kannst du die Versuchung umgehen?

3. Gefühle steuern

Unabgeschlossene Gedanken und Gefühle lenken uns psychisch ab, bis wir sie (vorläufig) lösen können.

Deshalb ist auch die Passung von Zielen und Bedürfnissen wichtig – ein Ziel hinter dem ich nicht voll und ganz stehe, kann ich nicht so fokussiert verfolgen

  • Wo finde ich Widersprüche in Bezug auf meine Ziele? Wie kann ich sie vorläufig lösen?

Unsere Willenskraft leidet besonders darunter, wenn wir zu viele Entscheidungen treffen, zu vielen Versuchungen widerstehen müssen und zu viele Gefühle regulieren.

Willenskraft statt Disziplin: Warum wir uns nicht disziplinieren sollten

Wenn wir uns und andere an Erfolgen messen, sehen wir nur das Ergebnis. Wie man das erreichen kann, darüber sind wir uns kollektiv relativ einig. Man muss sich anstrengen, Ablenkungen minimieren und zielstrebig an daran arbeiten.

Die versprochene Belohnung für diese Bemühungen liegt in der Zukunft, in der sich dann irgendwie gelohnt haben wird – durch Status und Geld, Sicherheit und Stolz.

Worauf wir schon seltener schauen, wenn wir die sogenannten erfolgreichen Menschen betrachten, ist, wie es ihnen auf dem Weg dahin ging. Denn verbissen ehrgeizig wollen wir eigentlich auch nicht sein, wir wollen nicht alles opfern für eine Karriere. Am besten sollte alles in einem angenehmen Verhältnis zueinanderstehen, der Traum von der Work-Life-Balance. Einerseits wollen wir uns nicht ständig selbst knechten, andererseits hat sich herausgestellt, dass es auf Dauer nicht glücklich macht, jederzeit der erstbesten Neigung nachzugeben.

Also machen wir es mal so und mal so… in längeren oder kürzeren Zyklen sind wir abwechselnd ausschweifend oder diszipliniert.

De facto verbringen wir dann Jahre und Jahrzehnte auf dem vermeintlichen Weg, der eine Erfüllung verspricht, wenn wir an das imaginierte Ziel gelangen – eine säkularisierte Erlösungsprophetie.

Also was ist jetzt los mit dieser Disziplin, dass wir uns dagegen sträuben, obwohl wir das Ergebnis eigentlich wollen?

Vom physischen Zwang zur Selbstdisziplin

Mit Foucault ist Disziplin ein Machtmechanismus, der die Lösung bietet für die Frage: „Wie kann man jemanden überwachen, sein Verhalten und seine Eignung kontrollieren, seine Leistung steigern, seine Fähigkeiten verbessern? Wie kann man ihn an den Platz stellen, an dem er am nützlichsten ist?“ (Foucault 2005: 233)

Seit dem Mittelalter hat die Ausübung von Macht ihre Form verändert: Früher hat man Menschen physisch gezwungen, um sie dazu zu bewegen etwas zu tun, das sie aus freien Stücken nicht getan hätten.

In den kapitalistischen Industriegesellschaften der Moderne wird Kontrolle und die Einhaltung von Regeln zunehmend auf die Psyche der Individuen bezogen. Im Laufe der letzten Jahrhunderte entsteht laut Foucault ein Subjekt, das sich selbst beobachtet, selbst überwacht und selbst diszipliniert.

Denn es muss nicht mehr nur mit der Beobachtung durch entsprechende Autoritätspersonen rechnen, sondern auch durch die Mitmenschen. Das führt zu einer maximierten Selbstkontrolle.

Und jetzt?

Wenn man also einerseits etwas will und sich gleichzeitig dagegen wehrt, es zu tun, ist man ein einer Ambivalenz gefangen.

Man muss sich dann selbst zwingen, statt mit dem Flow zu gehen. Dabei geht viel Energie verloren, aber manchmal scheint es nicht anders zu gehen.

Es könnte aber tröstlich sein, sich dafür nicht noch zu verurteilen und aufmerksam zu prüfen, was man wirklich will.#

 

Literatur

Baumeister, Roy/Tierney, John (2011): Die Macht der Disziplin: Wie wir unseren Willen trainieren können, Frankfurt/M: Campus Verlag.

Foucault, Michel (2005): Dits et Ecrits. Schriften, Band IV, 1980-1988, Frankfurt/M: Suhrkamp.

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WEITERE SPANNENDE IMPULSE